Endlich. Ein Platz zum atmen. Auf den Treppenstufen vor der Kirche Santa Maria della Salute…. , auf der anderen Seite des Canal Grande, quasi gegenüber des berühmten Markusplatzes.
Vor mir die Stadt mit den vielen schmalen Gassen. Ich fühle noch die Enge zwischen den Häusern, romantisch, historisch, erdrückend.
Venedig. Eine Museumsstadt. Ich sehe Touristen die sich durch den Irrgarten der Stadt winden. Dafür muss man bezahlen. Viel bezahlen. Kleine dunkle spartanische Zimmer zu horrenden Preisen. Alles um ein Teil zu sein, ein Teil einer ergreifenden aber auch lähmenden Historie.
Jede Strassenecke birgt eine neue unheimlich Gasse, jedes Fenster verbirgt eine Geschichte. Aber es kommt einem vor, als wären diese Geschichten alle aus der Vergangenheit.
Dann weiss ich auch warum! Dann weiss ich was hier fehlt! Leben!
Wo sind die Kinderlachen! Das Geräusch von klirrendem Geschirr, von streitenden Liebespaaren? Der Geruch von frischer Wäsche, frischem Kaffee und verbranntem Toast?
Mir fehlen die alten, dickbusigen Frauen die aus den Fenstern miteinander über die Gassen klönen. Die Kinder die auf der Strasse spielen, kläffende kleine Köter die einem hinterherrennen und an die Bäume pinkeln!
Bäume…. Da ist es! Es gibt hier keine Bäume! Einige Dachterassen haben ein paar Pflanzen, in einigen Restaurants stehen Blumen auf dem Tisch. Aber in den Gassen? Da! Blumentöpfe! Mit Plastikpflanzen…. Alles mehr Schein als Sein? Wird diese tote Stadt nur für die vielen Touristen künstlich am Leben erhalten? Mit Plastikpflanzen? Lauten Sängern die „O Sole Mio“ Tag aus und Tag ein von wankenden teuren schwarzen Gondeln trällern?
Wenn die Sonne scheint, sieht man die stolzen Kaufmänner von Venedig bildlich vor sich, mit ihren teuren schimmernden Gewändern. Man sieht die prachtvollen Kleider der von Parfum duftenden reichen Hofdamen, mit ihren kleinen Sonnenschirmchen und den weissen Perücken! Dann kann man das Leben und die Seele dieser wunderschönen Stadt fühlen! Fast mit der Hand greiffen! Händler rufen auf den Strassen, verscheuchen spielende Kinder. Venezianische Musik klingt von den Plätzen, die Kirchen läuten zum Gottesdienst.
Doch dann kommen dunkle Wolken, die Stadt wird grau, die Gassen werden dunkel.
Die feuchte kühle Luft fährt einem durch Mark und Bein und es wird still.
Man hört nur noch das Wasser an die kalten Steinmauern klatschen. Ab und zu ein Motorboot, es stinkt nach Diesel.
Und weiter, über die nächste Brücke. Auf zu neuen Ufern! Was erwartet mich auf der anderen Seite? Hinter der nächsten Hausecke? Es sind dieselben dunklen, oft zugenagelten Fenster.
Es ist ein Spaziergang durch die Vergangenheit. Durch eine jahrhundertalte faszienierende Geschichte! Jede abgebröckelte Fassade könnte man fotografieren, jede kleine verschnörkelte Brücke läd zum träumen ein. Doch über fast jedes Foto mache ich einen Instagram Filter. Damit sieht es irgendwie schöner aus als in der Realität. Die Stadt fasziniert mich und macht mich auch traurig. Dieser melancholische Schleier, diese Gewissheit über die ungewisse Zukunft dieser Stadt lähmt mich. Man kommt nur durch Boote an andere Orte. Dieses Schaukeln auf den kleinen Wellen irritiert meinen Magen. Unwohlsein und Übelkeit auf jeder noch so kleinen Reise zu einem anderen Ort dieser grossen Stadt.
Es gibt diesen Film, „Wenn die Gondeln Trauer tragen“. Ich muss gestehen ich habe ihn nie gesehen, aber der Filmtitel ist für mich sehr präsent. Die stolzen Gondelieries schippern Horden von Touristen durch ihre kleine geliebte Stadt. In der Hoffnung, dass sie durch die Touristen bestehen bleibt, durch sie noch einen Sinn hat zu existieren. Die Trauer liegt tief in ihren Augen. Schon lang wollen die wahren Venezianer nicht mehr in ihrer heiligen Stadt bleiben. Die alten historisch wertvollen Häuser. Sie müssen restauriert werden. Die Pfähle im Wasser fangen an morsch zu werden. Das kann sich keiner leisten.
Nun ist es eine Museumsstadt. Vor wunderschönen Fassaden wird geheiratet, fotografiert, gelacht, geliebt. Doch was passiert dahinter? Die meisten Fensterläden sind verschlossen. Viele sogar vernagelt.
Und dann wird das nächste Boot genommen. Aus dem Museum heraus. Ins wahre Leben. Bis zum nächsten Museumsbesuch. Bis das Museum schliesst. Oder untergeht.
So schön, Lea! Habe es wieder mal verschlungen, und tatsächlich hatte ich ein wenig das Gefühl, selbst in Venedig zu sein. Sehr bildhaft geschrieben. Schreib ein Buch! LG Annett
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